Abends fahre ich etwa eine Stunde lang mit verschiedenen Zügen und U-Bahnen bis Shin-Kiba, wo das Konzert von M83 stattfindet. Bereits von Deutschland aus hatte ich mir ein Ticket gekauft, das ich nun in meiner Wallet-App dabei habe.
Viele junge Menschen befinden sich hier am Ausgang des Bahnhofs, der Konbini ist voll, alle kaufen Getränke und Kleinigkeiten zu essen. Da ich bis zur Location noch einen kurzen Spaziergang vor mir habe, hole ich mir ein Bier, das ich auf dem Weg trinken kann. Damit das nicht so auffällt, stecke ich die Dose in eine Plastiktüte.
Egal wo man hier etwas kauft, bekommt man es in eine Plastiktüte gepackt und wird nur selten dazu im Vorfeld gefragt. Deshalb lernte ich bereits bei meinem zweiten Japan-Besuch, was ich sagen muss, wenn ich keine Tüte benötige. Damit später erkennbar ist, dass man die Dinge bezahlt hat, werden sie in Konbinis und kleinen Geschäften mit Aufklebern versehen. Keine Tüte bedeute also oft mehr Arbeit für die Menschen im Geschäft, wenn es sich nicht gerade um einen Supermarkt handelt.
Mit der verhüllten Bierdose in der Hand mache ich mich auf den Weg. Es ist windig, denn die Location liegt am Rand der Stadt, wo es hinaus geht aufs Meer. Ich überquere eine Brücke, blicke rechts und links auf Wasser und fühle mich an die Warschauer Straße in Berlin erinnert. Auch einige Männer hier erinnern mich daran: Sie tragen Bärte, Skinny-Jeans und haben keine asiatischen Gesichter. In Deutschland bin ich sehr gelangweilt von Leuten mit diesem einheitlichen Erscheinungsbild. Hier lösen sie in mir ein Gefühl von Vertrautheit aus, was mich sehr irritiert. Auf einmal spüre ich mit voller Wucht, was sonst ein eher unterbewusster Teil meines hiesigen Alltags ist: Die Menschen sind völlig anders und ich bin immer die Andere, an vielen Orten bin ich die einzige, die nicht asiatisch aussieht.
Da mich jedoch kaum jemand länger als ein paar Sekunden anblickt, denke ich nicht so oft darüber nach. Die Leute geben sich hier – trotz der zum Teil großen Enge – viel mehr Raum, indem sie sich gegenseitig in Ruhe lassen. Genau das hatte ich mir in Berlin so oft gewünscht! Mit meiner Haarfarbe und meiner Brille ist das offenbar unmöglich. Fast jeden Tag wurde in öffentlichen Verkehrsmitteln auffällig über mich gelästert oder gelacht. Es war sogar vorgekommen, dass mich junge Frauen ungefragt fotografierten oder Teenager Barbie-Girl sangen, als ich an ihnen vorbei ging.
Vollkommen in Ruhe gelassen zu werden bedeutet jedoch auch, unsichtbar zu sein, als sei man gar nicht da. Vor allem, wenn man im Hinterkopf hat, dass sich die japanische Gesellschaft recht konsequent gegenüber Fremdem und Fremden abschottet. Umso verwunderter bin ich darüber, dass mir bisher ein paar ältere Frauen zulächelten oder sogar Komplimente machten. Sie kamen mir auf der Straße entgegen oder saßen neben mir im Café.
Ich beschwere mich nicht, ich ließ mich ja vorsätzlich darauf ein. Ich bin mit dem Bewusstsein nach Japan gekommen, eine Außenseiterin zu sein und zu bleiben. Es ist vielmehr so, dass ich mir diese neuen, verschobenen Verhältnisse ansehe und auch, was sie mit mir machen: Wie sehr genüge ich mir mittlerweile eigentlich wirklich selbst? Wie sehr prägt mich die Aufmerksamkeit von Anderen? Bin ich frei, wenn ich nicht dazu gehöre, weil niemand von mir erwartet, dass ich die unausgesprochenen Regeln befolge? Oder ist das Gegenteil der Fall? Kommt der Punkt, an dem die Stimmung für mich kippt? Was bedeuten Freundschaften und Familie für mich? Was kann ich von den Menschen aus aller Welt lernen, denen ich hier begegne? Will ich am Ende in Japan bleiben oder bin ich dann froh, in ein vertrautes Umfeld zurück zu kehren?
Nachdem ich am Eingang mein Ticket vorgezeigt habe, muss ich noch etwa vier Euro für einen Getränkebon bezahlen, denn beim Kauf der Konzertkarte hatte ich mich dazu verpflichtet. Ich mag das Konzept nicht, denn so fühle ich mich zu einem Drink genötigt, den ich mir ohnehin gekauft hätte.
Im Vorraum mit Bar ist es total still. Es läuft keine Musik, die Menschen unterhalten sich gedämpft, am Kopfende des Raumes stehen ein paar Leute in einem abgetrennten Bereich und rauchen. Zigaretten sind hier nicht so verpönt wie in Deutschland: In vielen Cafés und Restaurants gibt es Bereiche, in denen das Rauchen erlaubt ist, und nicht überall sind diese abgeschlossen voneinander getrennt, was ich unangenehm finde beim Essen. Es raucht jedoch niemand auf der Straße – auch hier gibt es Raucherbereiche. Um die auf mich gedrückt wirkende Stimmung zu kompensieren, trinke ich erst einmal ein weiteres Bier.
Auch im Konzertsaal selbst ist es sehr ruhig, hier wird jedoch wenigstens Musik gespielt. Noch vor der angekündigten Zeit betritt ein Künstler die Bühne. Er hat Blumen mitgebracht, die er erst einmal auf dem Mischpult arrangiert, während erste Elektro-Beats erklingen. Das Publikum ist immer noch still: kein Klatschen, kein Jubeln, nichts. Und niemand bewegt sich. Erst als der Künstler sich vorstellt und das Publikum begrüßt, bricht das Eis. Ich bin sehr erleichtert.
Während der Umbaupause füllt sich der Raum. Ich trinke ein weiteres Bier und bin mittlerweile sehr entspannt und gefühlsduselig. Immer mehr Ausländer, deren Verhalten und Aussehen mir vertraut sind, stehen in meiner Nähe, und ich hätte auf einmal nichts dagegen, mit einem von ihnen zu sprechen. Weil sie – im Gegensatz zu den anderen Leuten – sehr laut sind, kann ich ihre Gespräche verstehen, die sie führen während sie sich mit weiteren Männern anfreunden. Der eine kommt aus Israel, die anderen sind aus New York. Die Gutaussehenden arbeiten alle bei Google und leben schon mehrere Jahre hier. Ein anderer ist Diplomat und kommt aus Holland, der nächste hat Japanologie studiert und arbeitet für irgendein japanisches Unternehmen.
Ich fühle mich auf einmal ganz klein, bin ich doch erst so kurz hier, spreche die Sprache kaum, habe keine Aussicht auf einen Job in Japan. Die Google Boys sind außerdem in Begleitung wunderschöner japanischer Frauen und nun fühle ich mich auch in dieser Hinsicht schrecklich. Da ich bereits Dank meiner Statur den hiesigen Schöhnheitsidealen überhaupt nicht entspreche, bin ich hier in der Regel weder für japanische Männer attraktiv, noch für die aus dem Westen. Ersteres stört mich weniger, weil ich mich damit abgefunden habe, zweiteres löst unerwartet Enttäuschung in mir aus. Ich erinnere mich nun wieder an einen Blogeintrag, in dem ein deutscher Mann schrieb, wie abstoßend er deutsche Frauen fände, seit er in Japan lebe.
Zum Glück betritt die Band die Bühne, ich bin erleichtert, dass die Menge bei jedem Stück jubelt und die Stimmung so gut ist. Ich lasse mich fallen in jene sonderbare elektronische Musik, die M83 machen: der Sound ist gleichermaßen kitschig wie eindringlich. Die Musik ist total da, es ist unmöglich, mich ihr zu entziehen und ich werde aufgesogen vom Bühnenbild, das durch verschiedene Lichtinstallationen immer wieder andere, entrückt wirkende Szenen wie aus dem Weltall bereithält. Mein Blick klebt an den weichen Bewegungen des Bassisten, seinen Locken, die im Takt der Musik wippen.
Zum ersten Mal seit ich in Japan bin, bin ich mir ganz nah, denn ich bin die Musik, ich bin die Lichter, ich bin meine Gefühle und Gedanken. Ich bin alles auf einmal und denke alles auf einmal. Deshalb wird mir auch klar: die Google Boys würden mich zuhause überhaupt nicht interessieren, weil sie ein Männerbild verkörpern, das mich geradezu abstößt. Sie sind Raum einnehmend, laut, selbstherrlich. Dass ich mich eben noch zu ihnen hingezogen fühlte, lag lediglich daran, dass sie schön sind und ich ihre Codes kenne. Hodor, Hodor! ruft einer von ihnen nun ganz laut, während die Musik sich gerade besonders emotional um uns herum auftürmt, und ich lache erleichtert über mich selbst.
Sänger Nicolas Fromageau jubelt an diesem Abend mehrere Male Tokioooooo! ins Mikrofon. Alle reißen dann die Arme nach oben und freuen sich, während das mit sehr viel Hall unterlegte Wort langsam in der Musik aufgeht. Eine Erinnerung für mich daran, dass ich wirklich hier bin, denn heute Abend kommt mir alles vor wie eine intensive Halluzination auf Drogen.
Als ich zurück zum Bahnhof gehe, weht mir wieder der Wind vom Meer durchs Haar. Ich fühle mich so frei.